Pater Josef Kentenich Portraits

Ein Geheimnis und Wagnis Gottes

Pater Kentenichs Grundüberzeugung ist, dass „jeder Mensch ein Gottesgeheimnis, ein Gottesgeschenk und gleichzeitig ein Wagnis Gottes ist ... Er ist ein Geheimnis der göttlichen Weisheit, ein Geheimnis der göttlichen Allmacht, ein Geheimnis der göttlichen Barmherzigkeit. Und wer wagt mit Geheimnissen umzugehen, ohne dass ein inneres Erzittern und Erbeben ihn ergreift!?“ (J. Kentenich).

Die angemessene Grundhaltung nennt Pater Kentenich die Ehrfurcht, Ehrfurcht „vor jedem Menschen, vor jedem Menschenschicksal, vor jeder Originalität, vor jeder Fähigkeit.“

In einem Vortrag vor Pädagogen entfaltet Pater Kentenich dies weiter:

Ehrfurcht vor jedem Menschen. Und wenn es auch der zerlumpteste Mensch wäre! Und wenn es der kränkste Mensch wäre, wenn er seelisch und körperlich wer weiß wie krank wäre! Ehrfurcht vor jedem Menschen!

Zweitens: Ehrfurcht vor jedem Menschenschicksal. Und wenn ich ein Menschenschicksal vor mir habe, das durch tiefste Nacht, durch tiefste Schuld hindurchgegangen ist! Ehrfurcht vor jedem Menschenschicksal! Ich weiß ja gar nicht, welche Kinderstube dieses Menschenkind gehabt hat. Ich weiß ja gar nicht, welche Erbanlagen das arme Geschöpf mitbringt.

Wenn wir ehrlich sind, wenn wir nur ein wenig objektiv wahr sind innerlich, dann werden wir uns sagen: Wenn ich in dieser Haut steckte, wenn ich diese Vergangenheit hinter mir hätte, wahrhaftig, wie stände es dann mit mir?! Des­wegen: Ehrfurcht vor jedem Menschenschicksal.

Drittens: Auch Ehrfurcht vor jeder Fähigkeit.

Die Ehrfurcht vor jeder Fähigkeit, die Gott in einen Menschen hineingelegt hat, soll sich zeigen in dem aufrichtigen Bemühen, „diese Fähigkeit zur Reife zu bringen, selbst wenn die Betreffende mich nachher überflügelt“.

Menschen vor Minderwertigkeit bewahren

Diese Ehrfurcht vor dem Heiligen in jedem Menschen prägte Pater Kentenich gerade da, wo er Fehler, Schwächen, ja Sünden im anderen wahrnahm. Immer wieder betonte er: Gott als barmherziger Vater misst nach anderen Maßen. Er liebt uns und das gibt uns unsere Würde, nicht das Freisein von Fehlern und Mängeln. Wo wir uns dem liebenden Vatergott überlassen, empfinden wir unsere Armseligkeit nicht mehr, sondern sind umgeben von Liebe.

Gott lässt uns manche Schwächen bis zum Ende, damit wir tief erleben, dass es ihm darauf nicht ankommt. Er will unser Herz. Dagegen „der Teufel will uns krank machen durch Minderwertigkeitsgefühle“ (J. Kentenich), er verleitet uns zur Selbstverachtung, wo wir fehlen und sündigen. Das ist die große Lüge der finsteren Mächte.

Pater Sylvester Hee­remann LC brachte in einem Vortrag folgenden Vergleich, um die Liebe des Vatergottes zu beschreiben: „Als ich ein Säugling war, was habe ich damals getan, um die Aufmerksamkeit und Liebe meiner Mutter zu gewinnen? Nichts. Aber ich war damals für sie ein unendlich zartes und wertvolles Gut. Wir müssen uns die Liebe Gottes nicht verdienen. Er hat uns zuerst geliebt. Die tiefste Wunde des Menschen ist der Zweifel an der eigenen Liebenswür­digkeit. Gott ist nicht der Konkurrent des Menschen. Er hat uns als die konkrete einzigartige Person geschaffen, die wir sind, weil er genau uns wollte“ (Sylvester Heeremann).

Pater Kentenich brachte Menschen gerade da, wo sie in Schwäche und Versagen zu ihm kamen, so große Ehrfurcht entgegen, dass ein echtes Wertbewusstsein, Selbstwertgefühl in ihnen wach wurde. Viele sagten, sie seien immer wieder besser von ihm zurückgekommen, als sie hingegangen waren. Er sah jeden Menschen in seiner Ganzheit, in seinem Wert und in seiner Würde, in seiner Einmaligkeit. Er „blickte durch“, blieb nicht an den Grenzen und Schwächen hängen, sondern sah das Gottesgeheimnis in dieser Person.

Der französische Philosoph Gabriel Marcel sagt einmal: Wo man den Menschen als Problem und nicht mehr als Geheimnis sieht, beginnt die Zerstörung einer Kultur. Pater Kentenich stand in Ehrfurcht vor dem Geheimnis jedes Menschen, auch vor dem Geheimnis seiner Schwäche und Schuld. Das wandte vieles zum Guten.

Ehrfurcht vor jedem Menschen als Abbild Gottes

Für Pater Kentenich war nicht das Alter entscheidend. Er hatte Ehrfurcht vor dem Erwachsenen, vor dem Jugendlichen, vor dem Kind. "Majestät des Kindes!" sagte er einmal, als eine Familie ihm ihr Kind vorstellte.

Ob arm oder reich, ob krank oder gesund, gebildet oder nicht, von einfacher Herkunft oder adeliger Abstammung, jeder Mensch war für ihn ein Abbild Gottes.

Ein Priester schildert, wie er Pater Kentenich erlebte, als er bei einem Gang durch Rom 1965 einen Bettler am Weg sitzen sah: „Er hatte ihm nichts zu geben, hatte selber wohl kaum Geld in der Tasche, ging auf ihn zu, konnte sich auch in der Sprache nicht mit ihm verständigen, brachte ihm aber doch irgendwie seine Freundlichkeit zum Ausdruck; und dieser Bettler empfand das auch und strahlte dankbare Freude aus.“

Für eine junge Frau war es ein Problem, wie man zu Menschen, die einem unsympathisch sind, in ein gutes Verhältnis kommen könne. Pater Kentenich gab ihr den Hinweis: „Wenn Sie einmal reifer geworden sind, werden Sie jeden Menschen in seiner Originalität erleben und daran viel Freude haben.“ Was er hier sagte, lebte er vor. Jemand beobachtete einmal, wie Pater Kentenich an einem kleinen Erfrischungshäuschen in Schönstatt vorbeiging. Es war eben erst eingerichtet worden und der Umgebung nicht sehr willkommen. Die Besitzerin machte nicht gerade einen freundlichen Eindruck. Es war Mittagszeit, als Pater Kentenich dort vorbeikam. Er grüßte die Frau freundlich, ging zu ihr ans Fenster und interessierte sich für alles, was sie zu verkaufen hatte. Er ließ es sich in Ruhe zeigen. Dann gratulierte er ihr wegen ihrer Klugheit, mit der sie es verstanden hatte, den kleinen Landzipfel nutzbar zu machen. Der forsche Ton der Frau und ihr ernster Gesichtsausdruck verschwanden völlig und machten einer anderen Stimmung Platz.

Du schaust auf uns mit Vaterblick, lässt teilen uns des Sohnes Glück“

So betet Pater Kentenich zum himmlischen Vater und beschreibt damit die Würde, die uns in der Taufe geschenkt wird. In der Taufe werden wir in Christus Kinder des Vaters. Er liebt in uns seinen eingeborenen Sohn, „lässt teilen uns des Sohnes Glück“. Es ist eine Würde, die unser Leben verändern kann.

Eine Woche vor seiner Hinrichtung, am 23. Januar 1945, schreibt Pater Alfred Delp im Gefängnis Berlin-Plötzensee einen Brief an sein kleines Patenkind. Der Brief beginnt mit den Worten: „Lieber Alfred Sebastian, es ist viel, was ein Mensch in seinem Leben leisten muss. Fleisch und Blut allein schaffen es nicht. Wenn ich jetzt in München wäre, würde ich Dich in diesen Tagen taufen, das heißt: ich würde Dich teilhaft machen der göttlichen Würde, zu der wir berufen sind. Die Liebe Gottes, einmal in uns, adelt und wandelt uns. Wir sind von da an mehr als Menschen, die Kraft Gottes steht uns zur Verfügung. Gott selbst lebt unser Leben mit, das soll so bleiben und immer mehr werden, Kind. Daran hängt es auch, ob ein Mensch einen endgültigen Wert hat oder nicht. Und er wird ein wertvoller Mensch werden.“

Wie ein Kommentar klingt da die Aussage einer jungen Frau aus unserer Schönstattbewegung: „Ja – wenn wir im tiefsten Grund unseres Herzens wirklich wissen um unsere eigene Adeligkeit, dann können wir unser Leben echt anpacken. Dann können wir etwas wagen und ausstrahlen.“ Sie erzählt, wie konkret dieses Lebensgefühl werden kann: „Wenn sich bei unseren Mädels bei­spielsweise beim Einkaufen ein Gefühl von ‚das passt zu mir‘ einstellt ... Genauso, wenn Mädchen sich überlegen, wie sie ihr Facebook-Profil einstellen, sich Gedanken machen, was ins In­ternet gehört und wie viel sie von sich preisgeben.“

Wer seine Würde erlebt, wird selbstsicherer. Diese Würde, die unabhängig ist von unseren persönlichen Mängeln, ist das schönste Geschenk der Barmherzigkeit Gottes.

Das Geschenk mit vielen teilen

Das Jahr der Barmherzigkeit ist eine Einladung, dieses Lebensgefühl vielen zu vermitteln, gerade denen, die sich in unserer Gesellschaft an den Rand geschoben und zurückgesetzt erleben. Wir mögen ihnen wirtschaftlich und finanziell helfen – der wichtigste Beitrag ist die Achtung vor ihrer Würde. „Es genügt nicht, hartes Geld etwa den Mitmenschen in die Hand zu drücken“, sagt Pater Kentenich in einer Predigt in Milwaukee. „… Es geht in alleweg wie beim Heiland um persönliches Interessiertsein am Gegenüber. Das ist ja die große Not der heutigen Zeit: Die heutigen Menschen möchten sich aufgenommen wissen, sie möchten Interesse erfahren, möchten das Gefühl haben, man mag sie, nicht etwa nur das Ihrige. Deswegen des große Gesetz, das seinerzeit Bischof Keppler in die Form gegossen: Gibst du Geld – gibst du dem Nächsten also in irgendeiner Weise aus Barmherzigkeit Geld – dann tue es mit Liebe, nichts ohne Liebe! Kannst du kein Geld geben, dann gib wenigstens einen guten Rat, gib einen freundlichen Blick; aber tue es in alleweg aus Liebe! Kannst du gar nichts geben, aber wirklich gar nichts, dann habe doch wenigstens die Sehnsucht, die Menschen mit Liebe zu umfangen und ihnen zu dienen! Und wenn darüber hinaus deine Seele wach ist für das Wohl des Nächsten, dann bete für die Interessen deiner Mitmenschen; tue es aber in alleweg aus Liebe, aus persönli­chem Interesse, nicht etwa nur aus innerer Kälte, notgedrungen, weil nun einmal ein der­ar­tiges Gesetz existiert!“ (J. Kentenich)

 

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